Samstag, 29. August 2009

Taube Charly

Tauben sind nervig. Das war immer meine Meinung. Bis Charly kam.

Meine Wohnung gefiel mir. Ich wohnte in einer WG in einem der oberen Stockwerke. Es gab sogar einen Balkon. Von dort hatte man einen schönen Blick auf mehrere Hinterhöfe, die nicht wie sonst üblich grau und mit Fahrrädern und Mülltonnen zugestellt waren, sondern durchaus auch viele Bäume und Pflanzen vorweisen konnten. Abends saß ich oft auf dem Balkon, trank mein Bier, und genoss den Anblick der untergehenden Sonne über den Dächern. Es sah aus wie in einem Reisekatalog. Alles war perfekt.

Bis auf eine Sache. Die Tauben.

Sie waren überall. Es war eine ganze Kolonie. Meistens saßen sie nebeneinander gereiht auf den Dächern und gurrten unaufhörlich. Es sah aus wie bei Hitchcock. Sie beobachteten mich und ich beobachtete sie. Zum Fliegen waren sie die meiste Zeit zu faul. Wozu sie aber sehr oft in Stimmung waren, war Taubensex. Dazu sprang das Männchen von hinten auf das Weibchen, flappte für fünf Sekunden wild mit den Flügeln, beide gurrten ganz laut und die Sache war beendet. "Genau wie bei uns Menschen", dachte ich dann.

Auch vor unserem Balkon machten sie natürlich nicht halt. Ich glaube es war sogar ihr Lieblingsplatz. Ständig musste man sie von dort vertreiben. Sie wurden immer dreister. Als ich mich einmal duschte und den Vorhang beiseite zog, saß vor mir auf dem Boden eine fette Taube und starrte mich glücklich an. Es dauerte Stunden sie wieder aus der Wohnung zu befördern. Und sie kamen wieder. Sie wollten auch die anderen Zimmer besichtigen.

Immer öfter brachten sie jetzt auch ihre Eier mit, die sie mit ihren Krallen beim Fliegen festhielten. Sah ich irgendwo auf dem Balkon oder dem Treppenhaus ein Ei liegen, spülte ich es sofort das Klo runter. Das sprach sich schnell in der Nachbarschaft herum. Bald hing unten am Schwarzen Brett ein Zettel mit einem selbstverfassten Gedicht über die "Taubenmörder".

Eines schönen Tages lag wieder mal ein Ei auf unserem Balkon.
Zu dieser Zeit war ich allein in der Wohnung. Mein Mitbewohner machte ein Auslandssemester. Ich war gerade auf dem Sprung, wollte das Wochenende bei einem Freund in einer anderen Stadt verbringen. "Das Ei kann ich auch noch nächste Woche weg tun", sagte ich mir und so brach ich auf. Als ich nach einigen Tagen wiederkam, traf mich fast der Schlag.

Von dem Ei war nichts mehr zu sehen. Stattdessen saß da jetzt eine fette Taube. Sie gurrte monoton vor sich hin. Unter ihr lag ein knochiges Ding mit Schnabel, das eindeutig am Leben war.

Die Taube war aus dem Ei geschlüpft. Und das auf unserem Balkon.
Der erste Gedanke, den ich hatte war:"Umbringen!". Ich stellte mir das ganze in etwa so vor, wie in David Lynchs Eraserhead. Ein kurzer Stich oder Tritt und das Problem wäre gelöst.

Beim nochmaligem Nachdenken, stellte ich aber fest, dass ich zwar ein "Eierrunterspüler" aber kein "Taubenmörder" bin.

Ich kaufte mir ein Buch über Tauben und stellte fest, dass es etwa einen Monat dauert, bis eine junge Taube das Fliegen lernt. Ich hatte jetzt einen Plan. Die Taube musste fliegen, so schnell wie möglich. Ich kaufte Kraftfutter und stellte es in einer Schüssel auf den Balkon, wenn die Glucke mal kurz ausgeflogen war. Über dies konnte sie sich dann hermachen und gesunde, vitaminreiche Muttermilch in Massen produzieren. Es würde eine Supertaube werden. Mit jedem Tag begutachtete ich seine Fortschritte. Und dann passierte was ich nicht für möglich gehalten hatte. Ich fing an meine Taube zu mögen. Ich gab ihr sogar einen Namen.

Charly.

Jeden Tag erfreute er mich aufs Neue mit seinem Zirpen und Fiepen. Ich redete mit ihm. Erzählte ihm alles Mögliche. Aus mir war ein Franz von Assisi geworden.
Ich verteidigte meinen Charly auch vor tödlichen Gefahren. Als mein Mitbewohner wieder zurück kam, wollte er sich auf den Balkon zum Abendessen setzen. Ich zischte ihn an und stellte mich ihm in den Weg. Kopfschüttelnd nahm er sein Abendessen in der Küche zu sich.

Eines schönen Tages war es dann soweit. Charly war nicht mehr da. Er musste weg geflogen sein. Zum Abschied hinterließen er und seine Mutter mir einen Balkon, der von oben bis unten mit Taubendreck überdeckt war. Ich war stolz auf ihn. Wenn ich heute eine Taube sehe, denke ich jedesmal an Charly.